…und so reifte im letzten Winter in einigen Schweriner Rudererköpfen der Wunsch, einmal mit dem Albatros über die offene See zu fliegen. Aber nicht gemütlich als Passagier wie Nils Holgersson auf dem Gänserücken, nein, bei diesem Albatros sollten wir die Muskeln sein, welche die Flügel zum schlagen bringen. Dieser Albatros – das ist eins der ersten Coastal-Ruderboote des DRV, ein gesteuerter Vierer, stationiert in der Hansestadt Stralsund. Und das Ziel heißt: Hiddensee umrunden!
Nachdem die Corona-Beschränkungen einige Monate lang das Vorhaben mit einem großen Fragezeichen versehen hatten, wird es im Juli dann doch noch möglich. Und so treffen wir, das sind Kirstin, Andreas, Kay, Phillipp und Sirko, am 10.Juli in Stralsund ein und werfen die ersten neugierigen Blicke auf das Boot.
Den Abend verbringen wir dann in der Rockeria, um uns kalorientechnisch mit Burger und Bier, sowie geistig mit Seekarten und Wetterprognosen auf das Kommende vorzubereiten. Bis auf einige kleine Schauer soll es von oben trocken bleiben, dafür ist zu erwarten, dass uns der Wind mit 35 km/h (Windstärke 5, in Böen bis 6) von der Seite recht nass machen wird.
Morgens dann gut gefrühstückt, das Boot zu Wasser gelassen, Proviant, Ausrüstung und Seesäcke mit Wechselklamotten sturmtauglich vertäut, ist das Boot um 9:30 klar zum Auslaufen. Zum Aufwärmen dann noch ein kurzer Sprint – in Richtung der Toiletten im Bootshaus – und um 9:40 gleiten die Blätter sanft vom Steg.
Steuerfrau Kirstin geht auf Nordkurs, und wir sehen achteraus die Kulisse der Stadt. Das Festland an backbord schützt uns (noch) vor größeren Wellen. Zugegeben, in unseren Booten auf dem Schweriner See würde diese Querwelle schon den Status „ziemlich nervig“ erreichen, aber der Albatros liegt so stabil, dass man außer leisem Plätschern nichts davon merkt. Das soll sich ändern, als wir den Parower Haken hinter uns lassen, und in der Prohner Wiek Kurs auf Barhöft nehmen. Hier bläst es ganz ordentlich, und auch die vorhergesagten Regenschauer beweisen uns jetzt die Richtigkeit der Wetterprognose. Die Untiefen neben dem Fahrwasser lassen die vorher in tieferem Wasser entstandenen Wellen sich ordentlich auftürmen, und erstmals kommt Coastal-Feeling auf.
Je näher wir Barhöft kommen, um so ruhiger wird es wieder, und auch der letzte Regenschauer des Tages ist vorbeigezogen. An Steuerbord passieren wir das Fahrwasser Richtung Gellen, aber wir halten noch eine kurze Strecke Kurs nach NW Richtung Prerower Fahrwasser, um dann zu wenden und so den optimalen Anlegewinkel zum Barhöfter Strand zu haben. Wir brauchen noch eine Pause, etwa 1,5 Stunden sind wir nun unterwegs. Und wir wissen: ab hier wird es lange keine Gelegenheit zum Anlegen mehr geben.
Bei den ersten Sonnenstrahlen des Tages genießen wir unser 2.Frühstück am Strand. So wird das Wetter nun bleiben, durchwachsen aber trocken, und angenehme Temperatur. Von einer weiteren Wetterkomponente, dem Wind, merken wir hier hinter den Bäumen gerade nichts. Wir beantworten noch die Fragen einiger Touristen, welche uns dann beim Ablegen beobachten und noch eine Weile hinterher schauen, während wir wieder nordostwärts die Insel Bock entlangrudern.
Wechsel auf dem Steuerplatz, Andreas übernimmt die verantwortungsvolle Aufgabe, uns über die offene See zu steuern, Kirstin geht auf Schlag. Kurze, aber noch nicht sonderlich hohe Wellen begleiten uns im Windschatten der Insel Bock, an steuerbord ist es so flach, dass die zahlreichen Wasservögel nicht schwimmen, sondern stehen. Dann ändert das Fahrwasser die Richtung auf NNW, und wir kämpfen uns gegen eine starke Strömung zwischen Bock und Gellen auf die Ostsee hinaus. Die kurzen Boddenwellen werden durch die lange Dünung der Ostsee abgelöst, und an den Untiefen nördlich des Bock ist eine beeindruckende Brandung zu sehen. Die Wellen sind jetzt etwa einen Meter hoch, aber das Boot weiß sie mit unglaublicher Sicherheit zu nehmen. Wir fahren die Wellenberge einfach hoch, und gleiten wieder hinab. Der Albatros liegt stabil wie ein Brett auf dem Wasser. Einmal kurz umschauen: Die lange Küste von Hiddensee reicht bis zum Horizont. Und dort, ganz am Ende, ein verschwommenes etwas, ein Berg, der Dornbusch. Dort wollen wir hin – und rum…
Uns kommt ein Segler entgegen. Der Skipper schaut kopfschüttelnd von weit oben hinab in unser kleines Boot, und wedelt in eindeutiger Geste mit der Hand vor dem Gesicht herum. Aber dann folgt der erhobene Daumen. Derartige Botschaften werden uns noch häufiger begegnen, die Mischung aus Anerkennung und „Ihr seid ja wohl verrückt!“. Auch wir werden uns heute noch für verrückt halten, aber zurzeit genießen wir die Fahrt. Die Wellen werden höher, je weiter wir uns nordwärts vorarbeiten. Genau dafür ist das Boot gebaut, der Ruderspaß ist groß während wir die Kraft der Natur spüren.
Die karge Landschaft des Gellen ist einem Wald gewichen, und am Strand sind nun auch Menschen erkennbar. Wir haben also das Naturschutzgebiet im Süden der Insel hinter uns gelassen, und nun passieren wir den Leuchtturm auf dem Gellen. Weiter hinten sind schon die ersten Häuser von Neuendorf erkennbar. Plötzlich ein dumpfer Knall, gefolgt von einem langen Zischen. Alle blicken sich erschrocken um. Sind wir auf etwas im Wasser Treibendes gestoßen, oder hat der Wellenschlag doch das Boot beschädigt? Entwarnung: Nur die im Bug verstaute Reserve-Rettungsweste hat durch überkommendes Wasser ausgelöst, und ist nun dabei sich aufzublasen.
In Höhe von Vitte haben die Wellen Höhen von über 1,5m erreicht. Im Wellental schauen wir nach oben auf die Schaumkämme über uns, oben auf dem Wellenberg bekommen wir die Blätter nicht mehr ins Wasser. Die hohe Anzahl von Luftschlägen vermindert unsere Geschwindigkeit deutlich, und auch wenn der Bug ins Wasser klatscht, wird das Boot gebremst. Wir sind jetzt recht langsam unterwegs, aber bald kommt mit Kloster der nördlichste Ort der Insel in Sicht. Auch das vorher verschwommen wahrgenommene Etwas am Horizont ist jetzt deutlich als bewaldeter Berg erkennbar, und die Mauer am Strand vor der Steilküste des Dornbusches sieht man schon deutlich.
Das Boot surft über die Wellen, es macht Spaß. Aber dann eine kleine Havarie: eine Rollschiene hat sich verschoben. An Reparatur ist bei dem Seegang nicht zu denken, und so muss Kay sich mit halber Rollbahn weiterquälen. Aber es geht vorwärts nach Norden, und plötzlich kann man am Dornbusch um die Ecke schauen.
Kurz darauf ist es Zeit für den Steuermann, den Kurs auf NO zu ändern, und damit beginnt das schönste Stück des Tages. Der Wind kommt nun schräg von achtern und schiebt uns vor sich her. Seit der letzten Pause sind wir ununterbrochen 3 Stunden unterwegs, und bringen kaum noch Druck auf die Blätter. Trotzdem sind wir nun verdammt schnell geworden, und erreichen mit fast 20 km/h die Spitzengeschwindigkeit des Tages. Noch schneller bewegen sich die Wellen unter uns hindurch, und wenn uns eine Welle überholt, so kommt es uns teilweise vor als würden wir achteraus die Welle hochfahren.
Von hoch oben auf der Steilküste grüßt uns der Leuchtturm Dornbusch, und unten am Strand erinnert ein gestrandetes Segelboot daran, dass auch die Ostsee für Freizeitseeleute recht tückisch sein kann. Noch eine Weile genießen wir den Flug des Albatros über die Ostseewellen, dann wird die Steilküste wieder flacher und es wird Zeit, den Kurs nach Südost zu ändern, in Richtung der Fahrrinne zwischen den Inseln.
Mit abnehmender Wellenhöhe beginnt der Adrenalinrausch einer allgemeinen Erschöpftheit zu weichen, und immer mühsamer kämpfen wir uns südwärts zum ersten Tonnenpaar der Fahrrinne. Kay versucht erfolglos seine Rollschiene zu richten, auch Philipp hat irgendetwas zu reparieren, und Kirstin und Sirko rühren lustlos mit den Blättern im Wasser herum. Erst auf Nachfrage des Steuermanns „Möchte eigentlich irgendwer von euch mal wieder rudern?“ kommt wieder etwas Bewegung ins Boot.
Wird auch Zeit, denn der Wind treibt uns immer schneller seitwärts aus dem Fahrwasser, auf die Flachwasserzone vor dem Bug zu. Zeitweise muss Andreas im Winkel von bis zu 45° zum Fahrwasser steuern, damit wir nicht seitlich weggetrieben werden. Die Mathematikbegeisterten unter uns wissen: Mit diesem Winkel müssen von der Strecke, welche wir über Grund in die gewünschte Richtung zurücklegen wollen, etwa die 1,4-fache Strecke durchs Wasser rudern. Hiddensee bietet keinen Windschatten, von der Insel sind wir zu weit entfernt. Aber dichter unter Land zu kommen geht auch nicht, denn die vorgelagerten Sandbänke versperren den Weg.
Kurz vor dem Stolper Haken geht es um 90° nach Steuerbord, auf Westkurs auf Hiddensee zu. Aber direkt an Land können wir noch nicht, ab Tonne 18 geht es wieder nach Süden. Schmerzende Arme, schmerzender Rücken, schmerzender Hintern,… und noch immer machen die Sandbänke kein Abkürzen möglich. An der Fährinsel müssen wir noch vorbei, dann können wir ab Tonne 23 endlich schräg auf den Hafen Neuendorf zufahren. Ausschau nach einem Strand, ohne Kraft ins flache Wasser, und raus aus dem Boot. Nach über 5 Stunden endlich Pause!
Kurze Zeit später – das Boot liegt sicher an 3 Ankern, Kays Rollschiene ist repariert und das Blut von den Griffen der Skulls abgewischt – liegen wir im Gras und vernichten die letzten Vorräte. Von dem Gedanken zur Westseite der Insel zu wandern nehmen wir Abstand, denn das wären ja mindestens 500m Fußmarsch. Keine Chance! Außerdem müsste man dazu ja aufstehen…
Wir geben uns eine gute Stunde bis 19:00, denn der Rest müsste in 2 Stunden zu schaffen sein. Es geht los mit neuer Kraft. Sirko, jetzt am Steuer, fährt so nah es die Wassertiefe zulässt unter Land. Trotzdem nerven kurzen Bodden-Querwellen. Kurz hinter dem Leuchtturm Gellen wird es Zeit, in Richtung Fahrwasser zu schwenken, um nicht auf der Untiefe Geller Haken zu landen. Navigation ohne Kompass, nach Landmarken. Und bei Tonne 43 wollen (müssen) wir wieder im Fahrwasser sein. Kleine grüne und rote Punkte in der Ferne zeigen uns das Fahrwasser. Welcher Punkt ist die 43?
Wir treffen bei Tonne 41 auf das Fahrwasser, um kurz darauf traditionsgemäß an der 43 ein Bier zu öffnen. Aussteigen im knietiefen Wasser, direkt neben der Fahrrinne. Letzter Wechsel auf dem Steuermannsplatz, Kirstin wird uns wieder sicher an den Steg bringen, vor Sonnenuntergang wie wir jetzt noch glauben.
Aber während wir einigen größeren Schiffen der Fahrgastschifffahrt, und auch freundlich winkenden Wasserschutzpolizisten ausweichen, nähert sich die Sonne den Bäumen der Insel Bock. Ein Blick auf Uhr und Karte: es wird wohl doch später als geplant. Erstens sind es von Neuendorf nicht 20, sondern 25 km. Sowas passiert, wenn man beim Abmessen der Entfernungen auf der Karte vergisst, einen der Abschnitte von Seemeilen in Kilometer umzurechnen. Um zweitens war der Gedanke, wir fahren mit der gleichen Geschwindigkeit wie beim Training in Schwerin, wohl deutlich zu optimistisch.
Die Strecke durch den Kubitzer Bodden wird endlos. Stralsund ist schon lange vor uns zu sehen, aber so oft wir uns auch umdrehen, die Kulisse der Stadt wird nicht größer. Dafür verschwindet achteraus Hiddensee hinterm Horizont. Vom Flachland sind nur noch die höheren Baumgruppen zu sehen, und dann natürlich der Dornbusch, jetzt wieder als der graue, verschwommene Berg am Horizont. Und jetzt in der Dämmerung blinkt uns von dort der Leuchtturm zu. Dort hinten waren wir!!!
Aber noch etwas verschwindet: Die Sonne hinter den Bäumen des Bock. Ein schöner Anblick, den wir aber nur noch schwer genießen können.
Wir passieren ein ankerndes Zollboot, und dann endlich den Parower Haken. Wir sind wieder im Strelasund, die Wellen sind verschwunden und plötzlich läuft das Boot wieder traumhaft. Die Stadtkulisse ist nun doch deutlich nähergekommen und mit neuer Motivation absolvieren wir die letzten Kilometer.
Nur unsere Steuerfrau hat Stress, denn der unbeleuchtete Steg ist in der Dämmerung nahezu unsichtbar. Aber die Lichter der Uferpromenade sind gut erkennbar, und so steuert Kirstin uns nach Gedächtnis ungefähr dorthin, wo wir morgens vermutlich losgefahren sind. Erst wenige Meter vor dem Steg zeigt sich: Ihr Gedächtnis war gut!
Eine letzte Steuerbordkurve, und wir gleiten nach insgesamt 74,99 km sanft an den Steg. Die Aussteigetechnik ist individuell verschieden, kriechen, krabbeln oder sich auf den Steg rollen. Und auch die letzte körperliche Herausforderung, das schwere Boot aus dem Wasser zu bekommen, wird noch gemeistert. Den Gedanken eines Restaurantbesuchs hatten wir schon zum Sonnenuntergang aufgegeben, und der neue Plan, Pizza zu bestellen, ist wirklich der bessere. Es wird kein langer Abend mehr, nach dem Feierabendbier/-wein fallen alle schnell in den Tiefschlaf. Toll, dass wir die Gästezimmer nutzen dürfen, vor kurzem hatte uns noch das Schicksal eines nassen Zeltes gedroht!
Früh morgens (=irgendwann am Vormittag